An einem Donnerstag Nachmittag bin ich mit meiner Kollegin aus dem Laden für Erotikmassage nach Feierabend bummeln gegangen. Wir hatten beide Frühschicht bis 16 Uhr und hinterher fuhren wir zur Einkaufsmeile in der Stadt, wo wir nach neuen Arbeitsklamotten schauen wollten. Als wir aus dem Auto stiegen und die Straße überquerten, wurde uns beiden plötzlich bewusst, dass wir zum ersten Mal außerhalb des Ladens auf der Strasse zusammen unterwegs waren. Bianca kicherte leise und meinte, „Was würden die Leute denken, wenn sie wüssten wo wir arbeiten?“ Wir lachten zusammen laut und eilten über die Strasse. Der Gedanke verband uns wie Geschwister in dem Moment und erinnerte mich wieder daran, wie stigmatisiert die Erotikbranche doch ist, obwohl wir in unserer Parallelwelt im Laden, wo wir so offen und ungehemmt über alles mögliche vulgäres reden können, die Vorurteile über das Milieu gerne vergessen.
Damals hatte ich den Arbeitsnamen „Bianca“ vorgeschlagen, den meine Kollegin gleich annahm. Ihr erstes Mal „auf Zimmer“ war ungefähr ein Monat nach meinem ersten Tag im Laden. Im Gegenteil zu den anderen Frauen die später eingearbeitet wurden, war Bianca alles andere als schüchtern oder zurückhaltend. Bianca war bei weitem die engagierteste Masseurin bei uns, die ständig vor Ehrgeiz und Energie sprudelte, vor allem wenn es um Verbesserungen an dem Laden ging. Jede Woche kaufte sie mit Freude unser Werkzeug ein (Öl, Duschgel, Schaumbad, Cewa-Tücher, usw.) und ließ sich ständig neue Ideen für Spezialangebote einfallen. Ausserdem war sie eine besonders gute Schauspielerin. Sie liebte es beim Gast die stereotypisch stöhnende Masseurin zu sein, die ihm das Gefühl vermitteln wollte, er wäre ein sexueller Überheld. Die anderen hielten solch ein Auftreten beim Gast für völlig übertrieben und unnötig. Man wollte ja nicht billig und klischeehaft vorkommen… Aber Bianca zog diese Masche mit vollem Selbstbewusstsein durch und hatte tatsächlich Erfolg mit mehreren Kunden. Zu ihren Stammkunden gehörten meistens ältere deutsche Herren, die häufig für ein bis zwei Stunden bei ihr blieben. Anscheinend war ihre etwas übertriebene Art genau das was diese Herren wollten.
Meiner Beobachtung nach, hatten die älteren Kunden die zu uns kamen oft eine etwas „einfache“ Vorstellung von Sexarbeiterinnen. Nämlich, dass die Frauen zum größten Teil den Job mit begrenzter Leidenschaft ausübten, wobei die Möglichkeit befriedigt zu werden eher selten in Frage kam und eine Masseurin wie Bianca somit etwas unglaublich besonders und faszinierend für diese Herren sein müsste. Die jüngeren Kunden schienen eher Bescheid zu wissen, dass der Job mittlerweile auch aus Interesse oder Spaß gewählt wurde und erwarteten auch selten eine überdrehte Reaktion von der Masseurin, sondern lieber das Gefühl eines eher ruhigen, natürlichen Behandlungsansatzes. Schon früh war mir klar, dass Bianca durch die Arbeit im Laden ein Doppelleben führte. Ihr Freund durfte auf keinen Fall über ihre Arbeit erfahren. Sie erzählte uns oft von ihrem Freund, der ihren Erzählungen nach ein anständiger, braver, unschuldiger junger deutscher Student sei. Sie wohnte sogar zusammen mit seiner Familie in einem Haus außerhalb der Stadt. Dass sie tagsüber und auch oft nachts als Promotion-Dame unterwegs war kaufte er ihr wohl ab und schien keine weiteren Fragen zu stellen oder mehr wissen zu wollen. Die gutbürgerliche Familie ihres Freundes stellte sie oft als konservativ und sehr ordentlich dar, weshalb ich stark bezweifelte, dass die Familie überhaupt was von Biancas Transsexualität ahnten. Darüber staune ich heute noch, da ich mir immer wieder den großen Schock vorstellen muss, den sowohl ihr Freund als auch seine Familie erleben würde, sollten sie jemals davon erfahren. Aber vielleicht kommt mein Erstaunen daher, dass ich einfach eine völlig andere Vorstellung von einer erfolgreichen, glücklichen Beziehung habe als Bianca. Für sie war es offenbar ganz normal, persönliche Geheimnisse ihrem Partner gegenüber zu verschweigen, wo ich hingegen schon immer der Meinung war, dass man in einer erfolgreichen, wahrhaft glücklichen Beziehung keine persönlichen Geheimnisse verschweigen müssen sollte.
Ich hätte andauernd das Gefühl, wenn ich in Biancas Situation wäre, dass ich eine große Lüge lebe und könnte nicht lange glücklich sein. Bianca hingegen sah sich wahrscheinlich nicht als Lügnerin, sondern eher als jemand, die einfach das Nötige tat, um so gut wie möglich in die Gesellschaft reinzupassen und vor allem mit ihrem Partner zu harmonieren. Vielleicht passte ihr durch diese Einstellung auch die Arbeit in der Erotikbranche so gut?
Als Dienstleisterin in der Erotikbranche ist das, was man verkauft zum größten Teil eine Illusion: um genauer zu sagen, eine Illusion von Liebe, Leidenschaft, Nähe und anderen zwischenmenschlichen Idealvorstellungen. Was die Menschen nicht in ihrer zwischenmenschlichen Wirklichkeit finden oder pflegen können, suchen sie als käufliche Variante. Daher liegt die Aufgabe der Sexarbeiterin darin, sich als Vermittlerin einer Illusion anstatt ihren Körper bloß als gemietetes Befriedigungsobjekt darzustellen. Die stereotypische Vorstellung der Sexarbeiterin als reine Verkäuferin ihres Körpers vernachlässigt das inhärente menschliche Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Zuneigung, das meiner Erfahrung nach auch oft bei käuflicher Erotik gesucht wird.
Bei erotischen Massagen, wo Geschlechts- und Oralverkehr in der Regel ausgeschlossen sind, kommen die gefühlsmäßigen Bedürfnissen der Kunden besonders zum Vorschein, gerade weil die Wege zum sexuellen Höhepunkt nicht über Geschlechtsverkehr stattfinden. Bei einer erotischen Massage bekommt der Kunde meistens mehr Zeit um die Berührungen und die Nähe der Dienstleisterin kennen zu lernen, ohne Geschlechts- oder Oralverkehr im Mittelpunkt als Ziel innerhalb des gebuchten Zeitraumes zu setzen. Diese Herangehensweise ist sicherlich nicht unmöglich bei Menschen die auch Sex verkaufen, aber um die zwischenmenschlichen Bedürfnissen von Kunden im Rotlichtmilieu besser zu verstehen, kann die gekaufte Erotikmassage besonders aufschlussreiche Einsichten ergeben.
Oft wurde mir von aussenstehenden die Frage gestellt (die ich mir anfangs selber oft stellte), wieso ein Mann in einen Laden für erotische Massagen gehen würde, anstatt in ein Bordell, wo er „offenbar noch mehr“ bekommen kann? Es ist auch tatsächlich so, dass der Stundenpreis für eine erotische Massage (Befriedigung mit der Hand zum Abschluss möglich) mittlerweile nicht viel von dem für eine Escort-Dame (Geschlechtsverkehr zum Abschluss möglich) abweicht. Trotzdem gibt es viele Läden für erotische Massagen in Deutschland die so gut besucht werden wie die Bordelle. So stellt man sich die Frage, ob der Erfolg von Erotikmassage etwas neues über die zwischenmenschlichen Bedürfnissen von Kunden im Rotlichtmilieu aufdecken kann? Wenn es nicht um Sex geht, wofür bezahlen die Kunden denn sonst?
Bianca sicherte ihre Stammkunden indem sie langsam eine Illusion aufbaute, in der ihr Kunde das Gefühl hatte, er könnte bei ihr seine zwischenmenschliche Idealvorstellung erleben und diese mit ihr zusammen weiterentwickeln. Man wusste ja nie was hinter den verschlossenen Türen im Laden genau passierte, aber ich vermutete, dass Biancas Stammkunden sowohl ihre dramatische, direkt-verführerische Art sowie ihr Vollkörpereinsatz bei fasst jeder Sekunde der Massage als auch ihr exotisches Erscheinungsbild, bei den anderen Frauen fehlten.
Bianca machte den Job gerne. Der Laden gefiel ihr vom Anfang an und man merkte, dass sie ihr die Weiterentwicklung des Ladens wichtig war. Sie ging auch generell sehr gerne einkaufen und gönnte sich fasst jede Woche ein neues Arbeitsoutfit. Mir brachte sie auch ab und zu Unterwäsche, Negligés, oder andere Accessoires mit. Sie genoss es auch vor allem einfach jeden Tag das Geld zu sehen, das sie verdiente und trug sich hochmotiviert für eine Schicht pro Tag ein, am Wochenende öfters sogar für zwei. Sie behauptete immer nur wegen des Geldes so viel arbeiten zu wollen, was auch jede Frau bei uns behaupten würde. Es wurde selten von einem wahren Genuss an der Arbeit gesprochen.
Sich die Arbeit an sich ehrlich gefallen zu lassen schien irgendwie ein unausgesprochenes Tabu zu sein. Natürlich hat man mal den besonders angenehmen oder charmanten Kunden erwähnt, oder über den eher seltenen jungen, hübschen Kunden geschwärmt, aber noch nie wurde im Laden über die Tätigkeit als erotische Masseurin als schmackhafte, tolle Arbeit mit emotionalen Anreizen gesprochen. Selbst Bianca, die persönlich so viel in die Arbeit investierte, hat nie deutlich geäußert, dass ihr die Arbeit einfach Spaß machte. Wenn die Frauen über ihre Entscheidung, in die Erotikbranche einzusteigen gefragt wurden, kam immer einen Grund wie direkt aus der medialen Darstellung von Sexarbeiterinnen zitiert: alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern; hohe Schulden, die dringend abbezahlt werden mussten; zu niedrige Löhne in anderen Arbeitsbereichen; jung und brauchte das Geld…und wenn die Arbeit manchmal doch genießbar war, dann nur zufällig weil man glücklicherweise einen Kunden hatte, der „nicht ganz ekelig“ oder respektlos war. Es war mir, als ob sich die Frauen selbst vor den Kolleginnen fast schämen würden, den Genuss an der Arbeit im Laden zuzugeben. Das fand ich manchmal schade, aber diese Selbststigmatisierung sah ich im Endeffekt als eine Auswirkung der gesellschaftlichen Stigmatisierung von Außen, die von Sexarbeiterinnen oft verinnerlicht wird.
– Nadine